Die Integration des Beckenbodens Teil 1
Karin Bischoff, Gymnastikpädagogin
Nachdem ich mich seit vielen Jahren mit meinem Körper und verschiedenen Formen und Theorien auseinander gesetzt habe, komme ich zum
Schluss, dass der menschliche Körper in seiner Grundstruktur und Funktion perfekt ist. In ihm und durch ihn habe ich einmal mehr die
Möglichkeit, die Gesetzmässigkeiten des Lebens zu betrachten und zu verstehen und bestenfalls zu tieferen Erkenntnissen über das Leben zu
kommen.
Wenn ich von der Integration des Beckenbodens spreche, nehme ich an, dass eine Wiederherstellung dieser Perfektion angestrebt werden muss
und also ein Herausfallen aus dieser zuvor stattgefunden hat. Daher frage ich mich :"Was verhindert das perfekte Funktionieren, das gottgegeben
ist ? Weshalb gibt es in unserer Gesellschaft so viele Menschen, deren Beckenboden nicht einwandfrei arbeitet ?" Ich suche nach der Ursache und
erkenne sogleich Vielschichtigkeit und Individualität. Was sich im Beckenboden als Schwäche äußert, ist oft nur die Spitze eines Eisberges.
Beckenbodenprobleme sind nie nur körperlich bedingt und immer individuell. Zu diesem Schluss komme ich nach jahrelangem Sammeln von
Erfahrungen durch das Begleiten von Betroffenen.
Natürlich gibt es allgemein gültige Regeln, die es zu beachten gibt. So bin ich überzeugt davon, dass z.B. das Pressen beim Wasserlassen eine hohe
Belastung für den Beckenboden darstellt und eine Langzeitschädigung mit sich bringen kann. Um diese Regel zu verstehen, braucht es ein Wissen
um die physikalischen Gesetzmässigkeiten. Wenn wir wissen, dass Pressen beim Wasserlassen schädlich ist, werden wir bestimmt vermehrt darauf
achten, es zu unterlassen.
Weit wichtiger und auch interessanter ist für mich aber die Frage, weshalb ich überhaupt presse, wenn es doch nicht notwendig ist und ich
durch mein Verhalten das harmonische Funktionieren des Wasserlassens störe und langfristig beeinträchtige. Ich kenne Frauen, die ihr Leben
lang das Pressen eingesetzt haben, da sie nichts anderes kannten.Die Frage nach dem Warum bringt sofort die Vielschichtigkeit hervor. Gründe
gibt es viele; einige sind bewusst, viele sind aber unbewusst und müssen zuerst bewusst gemacht werden. Das Sich-bewusst-Werden ist zentral,
denn nur was bewusst ist, kann sich verändern.
Sich bewusst werden
Um den Bewusstseinsprozess transparent zu machen, bleibe ich beim Beispiel vom Wasserlassen: Eine Frau kommt in den Beckenbodenkurs zu mir
und hört zum ersten Mal, wie eine Blase funktioniert und dass der Beckenboden massgeblich bei dieser Funktion beteiligt ist. Ich zeige ihr
anatomische Bilder und erkläre physikalische Gesetzmässigkeiten. Damit leiste ich grobe Aufklärungsarbeit über den menschlichen Körper, die die
Basis bildet für jeden weiteren Bewusstseinsschritt. Das Wissen um die eigene Anatomie und Funktion des Körpers ist bei den meisten Menschen
sehr mager und fehlerhaft. In den gängigen Lehrbüchern wird der Beckenboden nur tangiert und die Physiologie so stark vereinfacht, dass sie
bereits falsch ist. Zum Beispiel existieren in Bezug auf das Öffnen und Schliessen der Harnröhre 5 Hypothesen, und eigentlich weiss man noch
heute nicht genau, wie dieser Vorgang vonstatten geht. Diese Vereinfachungen verunmöglichen einerseits, tiefere Gesetzmässigkeiten zu erkennen,
und bilden eine zusätzliche Kluft zwischen Kopfwissen und eigener Körperwahrnehmung, so dass keine innere Verbindung hergestellt werden kann.
Meine Erfahrungen zeigen mir, dass selbst Fachleute noch nicht erkannt haben, wie wichtig es ist, das Funktionieren in seiner Komplexität zu
verstehen und zu fördern, wenn der Beckenboden wieder integriert werden soll. Ich staune immer wieder, dass Gynäkologen die WC-
Abklemmübung als einfache "Beckenbodenübung" verkaufen, obwohl seit mindestens 1990 wissenschaftlich erwiesen ist, dass diese Übung in Bezug
auf den Beckenboden fragwürdig und für die Physiologie des Harnlassens kontraproduktiv ist.
Zum nur rudimentären Wissen über den eigenen Körper kommt eine meist unbewusste anerzogene Tabuisierung des Beckenbereiches, die
zusätzlich verhindert, sich spontan und mit guten Gefühlen dem Beckenbereich zuzuwenden. Dies zeigt sich dort, wo die meisten Frauen schon gar
nicht auf die Idee kommen, sich zu fragen, ob man auf verschiedene Arten Wasser lassen kann, und dies dann ausprobieren. Oder dass Frauen
wahrnehmen, wie es sich anfühlt, wenn sie pressen und dabei den hohen Druck auf den Beckenboden als unangenehm empfinden. Daraus leite ich
einen dritten, schwerwiegenden Faktor im Bewusstwerdenprozess ab: Das mangelnde oder verschobene Körpergefühl und das schlechte
Körperbewusstsein.
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass in unserer Gesellschaft, die weitgehend nach aussen orientiert ist, das eigene Körperbewusstsein nur vage
oder überhaupt nicht vorhanden ist. Viele Menschen werden sich ihres Körpers nur unter Schmerzen bewusst, was natürlich nicht besonders
vertrauenserweckend ist. Um sich in der Gesellschaft oder im Beruf zu integrieren und etablieren, benötigen wir kein gutes Körperbewusstsein;
insofern wird es auch im üblichen Turnunterricht in den Schulen nicht trainiert. Etwas anderes ist es mit dem Körpergefühl. Ich denke, dass Kinder
ein intaktes Körpergefühl haben, wenn sie in ihrer Entwicklung nicht von aussen behindert werden. Kinder bewegen und toben sich aus, wenn
ihnen danach ist, und sie ruhen sich aus und schlafen, wenn sie müde sind. Sie sind noch eins mit ihrem Körper und nehmen seine Botschaften
ernst. Sie kommen auch nicht auf die Idee, ihre Bedürfnisse zu hinterfragen und zu bewerten. Geformt durch Schule und Erziehung sieht das später
anders aus.
Kinder sind eins mit ihrem Körper. Spielen und Austoben wird mit Lust verbunden.
Die meisten Menschen haben sich einen bestimmten Struktur- und Werterahmen gesteckt, der ihnen helfen soll, sich im Leben und in der
Gesellschaft zu orientieren. Dabei tritt aber leider oft eine Diskrepanz zwischen "Innen" und "Aussen" auf. Dazu ein Beispiel: Ich habe meine
Fitnessstunde heute abend um 18 Uhr geplant und merke dann eine halbe Stunde vorher, dass ich eigentlich müde bin und mich lieber auf dem
Sofa etwas ausruhen möchte. Es gibt vielleicht mehrere Gründe, dass ich mich für die Fitnessstunde entscheide. Die Konsequenz ist aber, dass ich
mein Körpergefühl ignorieren muss, das mir sagt, dass ich müde bin. Und eventuell werte ich meine Müdigkeit noch, indem ich mich - meinen
Körper - als faul bezeichne.
Ich bin der Ansicht, dass dem Körpergefühl viel zu wenig Beachtung geschenkt wird, was verheerende Folgen haben kann. Noch einmal zurück
zu unserem Beispiel mit dem Wasserlassen: Kinder dürfen im Notfall in den Schulen nur während der Unterrichtspausen auf die Toilette. Dies
scheint für den Unterricht zwar effizient, für ein gutes Körpergefühl allerdings hinderlich. Dem natürlichen Drang der Blase oder auch des
Darms werden unter Umständen über längere Zeit nicht nachgegeben, was vielleicht dazu führt, dass das Körpersignal verstummt (so beim
Darm ) oder ein totales Verklemmen stattfindet. Ist dann endlich Pause, muss gedrückt werden, weil Beckenboden und Blase so verspannt sind.
Es gibt unzählige Situationen in unserem Alltag, wo das Körpergefühl eine zweitrangige Rolle einnimmt, wo wir unser Körpergefühl
gesellschaftlichen, sozialen, ethischen oder ästhetischen Normen unterordnen. Sogar ein falsch verstandenes Gesundheitsbewusstsein steht häufig
vor dem eigenen Körpergefühl. Wie sonst ist es erklärbar, dass sich total verkrampfte, hochrote Jogger den Berg hoch keuchen und im Nachhinein
noch unter starkem Muskelkater behaupten, jetzt würden sie sich wieder einmal so richtig gut fühlen? Ich frage mich wirklich, wie gesund eine
solche Tortur ist? Auf jeden Fall würde ein Jogger mit einem guten Körpergefühl und einem guten Körperbewusstsein bestimmt anders laufen und
solche Strapazen als äusserst unangenehm empfinden. Vor allem würde ihn die Lust am Laufen und das daraus entstehende gute Körpergefühl
motivieren zum Joggen, was wiederum den Gesundheitsaspekt fördert.
Entgegen der weit verbreiteten Annahme, der Mensch verfalle der totalen körperlichen Faulheit, wenn er nicht dagegen ankämpft, bin ich durch
persönliche Erfahrungen zu der Überzeugung gelangt, dass erst der körperlichen Passivität ( und damit auch der Angst vor dem Verfaulen) totale
Sich-Hingeben die innere Antriebskraft auslöst und eine gesunde Eigenmotivation zur Bewegung entstehen lässt. Mit anderen Worten: Die totale
Entspannung birgt in sich den Antrieb zur nächsten Spannung, zur nächsten Motivation und Aktivität. Leider ist die Angst vor Faulheit und Fettsucht
so gross, dass sich nur wenige der Passivität öffnen und dadurch ganz neue Erfahrungen diesbezüglich sammeln können. Wir befinden uns in einer
derart aktiven, leistungsorientierten Gesellschaft, dass unsere Wahrnehmung in Bezug auf Spannung und Entspannung total verschoben ist. Sonst
würden wir nämlich verstehen, dass wir vor allem erst einmal Lust haben, nichts mehr zu tun und faul herumzuliegen, weil wir immer aktiv sein
müssen.
In vielen Fitnessbereichen geben ästhetische Normen den Ton an; Körpergefühl und
Entspannung sind nicht gefragt.
Im Zentrum steht die Verantwortung
Meine Gedankengänge sollen vor allem zum Nachdenken anregen und die Möglichkeit schaffen, das Thema Beckenboden vor einem breiten,
ganzheitlichen Hintergrund zu sehen, der Verknüpfungen auf verschiedenen Seinsebenen zulässt und aufzeigen kann. Dies ist unbedingt notwendig,
wenn wir die grosse Problematik von Beckenbodenschwächen verstehen und das Problem bei der Wurzel anpacken wollen. Denn es soll keine
Symptombehandlung stattfinden, die nie endet, sondern der ganze Mensch kommt in einen Prozess, der zum Ziel hat, gesund zu werden und mehr
Lebensqualität zu erhalten. Natürlich fordert diese Haltung von mir als Kursleiterin mehr als ein paar gut gemeinte Tipps und eine Hand voll
Beckenbodenübungen aus der gängigen Literatur. Es fordert von mir ein Wissen über mich selbst und meinen Beckenboden und das Erforscht-
Haben von eigenen inneren Zusammenhängen.Durch das Verbinden von äusserem Wissen und inneren Erfahrungen können Erkenntnisse
entstehen, die zu neuen Wegen der Veränderung führen. Darin sehe ich die grosse Chance der vielen Beckenbodenprobleme: Sie sind von aussen
nicht sichtbar, so wie der Beckenboden im Verborgenen bleibt, und wir sind gezwungen, uns auf unsere Selbstwahrnehmung einzulassen, wenn wir
etwas verändern wollen. Wir müssen bereit sein zu fühlen, zu spüren und unseren Wahrnehmungen zu vertrauen. Niemand kann uns dies
abnehmen, kein Arzt, kein Therapeut, niemand. Die Selbstverantwortung ist ein zentraler Aspekt auf diesem Therapieweg. Ich bin überzeugt, dass
nur über die Selbstverantwortung ein Prozess beginnen kann, der längerfristig zu tiefgreifenden Veränderungen führen kann. Meine Rolle als
Therapeutin verändert sich aus dieser Perspektive ebenfalls: Ich begleite und unterstütze meine Klienten auf ihrem Weg der Selbsterkenntnis und
weise sie allenfalls durch mein Wissen und meine Erfahrungen auf verborgene Inhalte hin.
Leiden für mehr Leistung. Körper und Geist gehen verschiedene Wege.
Der Beckenboden ist total überspannt
Eine Erkenntnis, die sich im Laufe der Jahre erhärtet hat, ist die Tatsache, dass einem "schwachen" Beckenboden immer ein total überspannter
Beckenboden vorausgeht. Wenn Frauen Mühe haben, Spannung in ihrem Beckenboden aufzubauen, liegt das nicht an mangelnder Muskelkraft im
Beckenboden, sondern daran, dass die entsprechenden Muskeln schon angespannt sind und sich gar nicht mehr kontrahieren können. Um also
überhaupt wieder Spannkraft aufbauen zu können, müssen sich die verschiedenen Beckenbodenmuskeln zuerst einmal entspannen, was nicht so
einfach ist, da der Muskletonus inzwischen sehr und die Wahrnehmung in diesem Zustand eingeschränkt ist. Der Beckenboden ist in diesem Sinne
erstarrt und kann sich in keiner Situation mehr flexibel und angepasst verhalten. Es entsteht ein Teufelskreis, in dem sich die Betroffenen total
hilflos und ausgeliefert fühlen. Aus der Angst heraus, der Beckenboden komme seiner Aufgabe nicht nach, wird zusätzlich verklemmt und verhalten
mit allen umliegenden Muskeln. Gesäss, Bauch und Beine werden ebenfalls noch angespannt, was das Ganze nur noch verschlimmert und
zusätzliche grosse Probleme mit sich bringt.
Im Vordergrund jeder Beckenbodenarbeit steht also Entspannung. Nur durch bewusstes Loslassen können wir überhaupt erkennen, wie sehr der
Beckenboden sich in Anspannung befindet. Mit dem Entspannen setzt die verstärkte Durchblutung im Beckenbereich ein, was zu einer besseren
Wahrnehmung führt. Erst nach einiger Zeit erkennen die Kursteilnehmerinnen selbst, was als Theorie schon vorhanden war: nämlich, dass ihr
Beckenboden tatsächlich überspannt ist und dass es schwierig ist zu entspannen. Hingegen ist Spannung immer wieder schnell aufgebaut, ob
bewusst oder unbewusst.
In der Entspannung liegt die Quelle für die nächste Anspannung, für den nächsten Handlungsimpuls. Ohne Entspannung gibt es keine
Spannung.
In der Überspannung liegen unbewusste Inhalte
Die körperliche Ursache für Beckenbodenschwächen ist immer eine Überspannung im Beckenboden und den angrenzenden Muskelgruppen, ob es
sich nun um eine Harninkontinenz, Organsenkung oder um Probleme im Zusammenhang mit der Sexualität handelt. Eine Unterspannung habe ich
im Beckenboden noch nie beobachtet. Inzwischen kann ich verschiedene Faktoren dafür verantwortlich machen : Der natürliche, autonome
Atemfluss ist nicht mehr vorhanden. Der freie Atemfluss löst in unserem Körper einen stetigen Wechsel zwischen Spannung und Entspannung aus.
Wird der Atemfluss unbewusst kontrolliert und dadurch der Atem "gemacht", können die drei Atemphasen (Einatmung, Ausatmung und
Atempause) nicht mehr erlebt werden, was das innere Gleichgewicht zwischen Spannung und Entspannung beeinträchtigt und verschiebt. Die
direkte Folge der kontrollierten Atmung ist eine Überspannung im Zwerchfell, welches direkt mit dem Beckenboden korrespondiert. Eine
Überspannung im Zwerchfell wird immer eine Überspannung im Beckenboden zur Folge haben.
Nicht verarbeitete Traumen im Beckenboden lösen Spannung aus. Bei den meisten Frauen ist der Beckenboden mehr oder weniger traumatisiert.
Die Ursachen sind vielfältig und immer mit der psychisch-seelischen Ebene verknüpft. Die Palette reicht von einem simplen Sturz auf das
Steissbein, über die Geburtssituation und Abtreibungen, zu sexuellem Übergriff und Vergewaltigung oder sogar sexuellem Missbrauch im
Kindesalter. Der körperliche und seelische Schmerz muss in jedem Fall verarbeitet werden, wenn er sich nicht längerfristig körperlich äussern soll.
Und genau hier liegt der Schwachpunkt. Je schwerwiegender der Fall, umso schwierig ist, damit fertig zu werden.
Eine positive Veränderung im Beckenboden beinhaltet dann immer einen komplexen Heilungsprozess auf verschiedenen Seinsebenen. Mit dem
bewussten Entspannen im Beckenbereich wird der verkrampfte, abgespaltene Beckenboden wieder belebt. Die Entspannung in den
Beckenbodenmuskeln bewirkt durch die Atmung eine verstärkte Durchblutung im Becken, was natürlich eine positive Auswirkung auf die
Wahrnehmung hat. Und mit dem bewussten Spüren werden auch die im Muskel blockierten Gefühle wieder frei und bewusst. Alte Verletzungen
und Wunden, welche nie verarbeitet und ausgeheilt wurden, treten wieder ans Tageslicht und beanspruchen über eine gewisse Zeit die volle
Aufmerksamkeit der Betroffenen. Oft fühlen sich die Frauen zurückversetzt in "alte Geschichten", die den ganzen Schmerz wieder auslösen und
Trauer hervorrufen. Möglicherweise realisieren einige Frauen während dieses Bewusstseinsprozesses, dass ihr Problem nicht vorwiegend nur beim
Beckenboden liegt, sondern sich nur dort spiegelt und äussert. Die suptile Arbeit im Beckenboden ermöglicht ihnen aber, vor allem sich selbst
näher zu kommen und sich ihrer ganzen Persönlichkeit bewusster zu werden. Ich bin sicher, dass die Frauen dann beginnen, sich besser zu spüren
und ihren Wahrnehmungen auch vertrauen, so dass sie wissen, was sie als nächstes in ihrem Heilungsprozess brauchen.
Eine übertriebene Reinlichkeitserziehung und verklemmte Sexualerziehung lösen Schamgefühle und somit wieder Spannung im Beckenboden aus.
Auch wenn wir glauben, wir hätten einen freieren und natürlicheren Umgang mit der Sexualität als noch unsere Grosseltern, so werde ich laufend
eines Besseren belehrt. Auch junge Menschen bewegen sich noch immer in Klischeevorstellungen, was eine salonfähige Sexualität angeht. Tatsache
ist, dass wir noch alle sehr gehemmt mit unseren sexuellen Gefühlen umgehen und ihnen eher misstrauisch gegenüber stehen. Wir setzen unserer
Sexualität einen gesellschaftlich anerkannten Rahmen und fühlen uns dadurch sicherer. Melden sich sexuelle Gefühle ausserhalb unserer gesteckten
Handlungsfähigkeit, dann wird es unangenehm und schwieriger, damit umzugehen. Eine unbewusste, körperliche Möglichkeit bietet aber das
Anspannen im Beckenboden, dass einem Verklemmen der Gefühle gleichkommt. Hohe Spannung verhindert Wahrnehmung. Eine übertriebene
Reinlichkeitserziehung, die uns immer wieder glauben liess, dass der Beckenboden unsauber sei, fördert wohl kaum das Vertrauen in die eigene
Sexualität und bringt uns eine Clinch-Situation. Daraus entstehen Schamgefühle im Becken, die uns einmal mehr den Zugang zu unserer Sexualität
und unserem Beckenboden verwehren.
Die Integration des Beckenbodens Teil 2
Karin Bischoff, Gymnastikpädagogin
Körperarbeit im Beckenboden
In der Körperarbeit steht die Entspannung vorerst im Zentrum. Nur über die Entspannung schaffen wir ein
ganzheitliches Fundament, das den Frauen ermöglicht, an ihre individuelle Ursache der Beckenbodenschwäche zu kommen. Es benötigt einiges an
vermitteltem Hintergrundwissen, um den Betroffenen verständlich zu machen, weshalb sie vorerst einmal lernen müssen zu entspannen. Frauen, die
unter einer Harninkontinenz oder Gebärmuttersenkung leiden, verspüren natürlich zusätzlich den Drang, ihren Beckenboden und alle umliegenden
Muskeln anzuspannen, um ihrer Angst vor dem Loslassen entgegenzuwirken. Es braucht Mut, jetzt den Beckenboden zu entspannen. Zudem wird eine
Überspannung zuerst nicht wahrgenommen. Denn für das Körpergefühl ist diese stetige Anspannung völlig normal. Erst nach längeren
Entspannungsphasen realisieren die Frauen allmählich, wie hoch zuvor die Anspannung gewesen ist, sie können den Unterschied von Spannung und
Entspannung jetzt wahrnehmen.
Das Wahrnehmen und Bewusstwerden der eigenen Körperhaltung und der Spannungszustände in den Haltemuskeln ist ein weiterer wichtiger Faktor in
der Körperarbeit. Unser Bewegungskörper ist so eingerichtet und ausgestattet, dass er sehr ökonomisch und funktionell arbeiten kann. Das heisst, dass
die einzelnen Muskelkoordinationen für eine bestimmte Bewegung so fein abgestimmt sein könnten, dass eine Bewegung möglichst reibungsfrei und mit
minimalem Aufwand ausgeführt werden kann. Dieses Verhalten ist dem Körper einfach gegeben, wie eine eigene Intelligenz. Dieses von mir benannte
ökonomisch-funktionelle Körperverhalten ist in der Entspannung und Passivität erlebbar. In diesem Zustand geben wir unsere grob kontrollierte
Muskelsteuerung der eigenen Körperintelligenz ab und lassen uns von ihr führen.
Die Ausrichteübung und das Beckenkippen
Das passive Ausrichtenlassen über die Körperintelligenz und das passive Beckenkippen in der
Rückenlage geben uns Aufschluss über unser ökonomisch-funktionelles Körperverhalten und über allfällige Überspannungen und/oder Verkürzungen in
bestimmten Muskelgruppen, die eben ein ökonomisch-funktionelles Körperverhalten verhindern. Haben wir einmal festgestellt, welche
Spannungsblockaden im Körper vorhanden sind, wissen wir, wo unsere Aufmerksamkeit hingelenkt werden muss.
Die Ausrichteübung
Rückenlage, Füsse hüftbreit aufgestellt, Hände ruhen auf dem Unterbauch: Den Atem in Gedanken entspannt bis in den Bauch, in
die Hände lenken. Den Atem nicht forcieren, nur beobachten. Mit dem Ausatmen sinkt der Bauch entspannt in den Rücken, sodass Kreuz- und
Beckenbereich weich und breit werden. So lange entspannt ausatmen lassen, bis das Einatmen wieder von alleine kommt. Wenn der Atem allmählich ruhig
und autonom wird, stelle ich mir vor, wie der Einatem bis zum Steissbein fliesst und sich dort ausdehnt. Mit dem Ausatmen lasse ich den Atem über das
Steissbein hinaus in die Verlängerung fliessen. Durch das mentale Führen der Atmung lösen sich in der Region des Steissbeins und Afters oft sehr hohe
Spannungen, welche ein Ausrichten über das ökonomisch-funktionelle Körperverhalten grundsätzlich verhindern und zusätzlich verantwortlich sind für
Rückenprobleme im Kreuz- und Lendenwirbelbereich und für Spannungsverschiebungen im Beckenboden.Danach lenke ich die Aufmerksamkeit auf die
Knie und stelle mir vor, wie diese an Fäden aufgehängt sind, die zur Raumdecke hochziehen, sodass das ganze Gewicht der Beine an den Fäden hängt.
Dadurch können sich unnötige Spannungen in den Beinen und Hüftgelenken lösen.
Alle Muskeln um das Becken, am Gesäss, um die Hüftgelenke können sich entspannen.Die Hüftgelenke fühlen sich ausgedehnt und weich an. Jetzt richte
ich die Aufmerksamkeit noch auf den Scheitelpunkt am Kopf, die Verlängerung der Wirbelsäule. Ich stelle mir vor, wie aus der Verlängerung ein Faden
zieht, der die Halswirbelsäule passiv und fein verlängert, sodass sich das Kiefergelenk entspannen kann und viel Raum zwischen den Schulterblättern
entsteht. Mit jedem Ausatmen sinkt das Brustbein entspannt in den Rücken, und in meiner Vorstellung fliesst der Atem gleichzeitig über den Scheitelpunkt
hinaus in die Verlängerung. Diese Ausrichteübung bringt mich in eine entspannte, passive Haltung, die dem ökonomisch-funktionellen Körperverhalten
ermöglicht, die Führung für jede weitere Bewegung zu übernehmen. Durch das entspannen der starken, dominanten Haltemuskeln wird ein Zustand
erreicht, wo eine ökonomische Feinkoordination aller Muskelansätze am Becken erst möglich wird.
Das Beckenkippen
Aus der Ausrichtung in Rückenlage lasse ich nun das ökonomisch-funktionelle Körperverhalten für mich arbeiten. Das heisst, dass
ich mich so passiv wie möglich verhalte und dadurch Informationen über allfällige dominante Kontraktionsmuster erhalte, die ein ökonomisch-
funktionelles Bewegen verhindern oder einschränken.
Das Beckenkippen
Mit den Füssen leicht Druck auf den Boden aufbauen, sodass das Becken ins Kippen kommt und das Kreuz Richtung Boden sinkt.
Der Bauch sinkt dabei entspannt in den Rücken, Gesäss- und tiefe Rückenmuskeln bleiben ebenfalls entspannt, und die Sitzbeinhöcker fühlen sich breit an.
Die Bein- und insbesondere Hüftbeugemuskeln verhalten sich passiv. Danach den Druck mit den Füssen langsam lösen und das Becken zurück ins
Zentrum kommen lassen - zurück in die Ausrichtehaltung. Danach gehen die Gedanken zum Steissbein. Das Steissbeinende zieht leicht und langsam ohne
aktiven Kraftaufwand Richtung Boden, wobei sich das Becken Richtung Hohlkreuz bewegt. Vor allem die Hüftbeuger, welche sonst sehr dominant sind und
beim geringsten Bewegungsimpuls anspringen wollen, sollen hier entspannt bleiben. Lassen wir uns hier aber bewusst vom Steissbein führen und bleiben
in einer sehr passiven Haltung, so kommt ein grösseres, fein koordiniertes Muskelsystem zum Tragen, das als Ganzes diese Bewegung zustande bringt.
Danach den imaginären Zug am Steissbein wieder lösen, sodass das Becken langsam und passiv wieder in seine Mittelposition zurückfinden kann. Jetzt
beginnt die Übung wieder von vorne : Mit den Füssen leichten Druck in den Boden ausüben .....